Pascal-Prozess

Pascal-Prozess

Der Pascal-Prozess war ein Strafprozess vor dem Landgericht Saarbrücken, der den mutmaßlichen Mord an einem Jungen namens Pascal aufklären sollte. Das fast dreijährige Verfahren, das als einer der spektakulärsten und langwierigsten Prozesse der saarländischen Justizgeschichte gilt[1], endete im August 2007 mit Freisprüchen für alle zwölf Angeklagten. Am 13. Januar 2009 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision der Staatsanwaltschaft, somit sind die Freisprüche rechtskräftig.

Inhaltsverzeichnis

Ermittlungen

Am 30. September 2001 verschwand der damals fünf Jahre alte Pascal im Saarbrücker Stadtteil Burbach. Daraufhin wurde die Soko Hütte eingerichtet, die jedoch trotz hunderter Zeugenaussagen den Jungen nicht finden konnte. Der Verdacht richtete sich zunächst gegen die 18-jährige Stiefschwester, nachdem deren jüngere Schwester behauptete, die ältere Schwester habe Pascal nach einem Streit mit einer Schaufel erschlagen, und die ältere Schwester die Tat gestanden hatte. Das jüngere Mädchen widerrief diese Aussage aber bald; noch vor Auftakt des eigentlichen Pascal-Falles klagte die damals 15-jährige gegen die ermittelnden Beamten, die sie mittels physischer Gewaltanwendung gezwungen hätten, diese Aussage zu widerrufen, um stattdessen als zweite Version von einem Mann zu berichten, der Pascal am Tage seines Verschwindens im Auto mitgenommen habe. Das Verfahren wegen Körperverletzung und Aussageerpressung wurde eingestellt, da die beschuldigten Beamten aussagten, das Mädchen habe lediglich einen unbeabsichtigten Unfall gehabt, während die Zeugin beteuerte, auch von ihrer älteren Schwester, die sie des Totschlags an Pascal bezichtigt hatte, zu der Version mit dem Mann im Auto gedrängt worden zu sein. Während des eigentlichen Pascal-Prozesses, als es nur noch um ihre erste Aussage ging, wonach ihre ältere Schwester Pascal erschlagen haben sollte, widerrief sie diese Aussage wieder und verwies auf das Drängen der bezichtigten älteren Schwester, sie nicht weiter zu beschuldigen.[2][3]

Im Herbst 2002 berichtete ein anderer Junge, der von der Polizei als Kevin bezeichnet wird, dass er und Pascal zu Opfern einer Kinderschänderbande geworden seien. Diese bestünde aus der Wirtin der im Saarbrücker Stadtteil Burbach gelegenen Tosa-Klause sowie mehreren Stammgästen. Die Ermittlungen richteten sich nun auf diesen Personenkreis, woraufhin im Februar 2003 Haftbefehle gegen die Wirtin und etwa zwei Dutzend Stammgäste erlassen wurden.

Mehrere Beschuldigte machten gegenüber der Polizei belastende Angaben. Eine der Beschuldigten, Andrea M., gestand, dass Pascal in die Kneipe gelockt, mehrfach vergewaltigt und anschließend mit einem Kissen erstickt worden sei. Die Leiche habe man in einem Müllsack in einer Sandgrube im französischen Forbach verscharrt. Daraufhin wurde die Grube im April 2003 wochenlang von einer 70-köpfigen Einsatzgruppe der Polizei durchsucht. Ein Leichnam konnte jedoch bis heute nicht gefunden werden.

Der Polizei wird Fehlverhalten vorgeworfen. Sie hätte schon länger über einen Informanten von Kindesmissbrauch in der Tosa-Klause gewusst, ohne einzugreifen. Polizei und Kindergärtnerinnen hätten das Jugendamt auf Missstände in Kevins Pflegefamilie hingewiesen, was aber keine Folgen hatte. Tonbänder, auf denen Kevins Pflegemutter Gespräche mit ihm aufgezeichnet hatte, verschwanden auf dem Weg vom Jugendamt zum Gericht.[4]

Prozess

Einer der Beschuldigten, der von den Medien mit "Sch." benannt und als geistig zurückgeblieben beschrieben wurde, gestand den Missbrauch von Kevin und Pascal. Er habe sich in einem Hinterzimmer der Kneipe an den Kindern vergangen und der Wirtin dafür jeweils 20 Mark bezahlt. Nachdem das Verfahren gegen ihn von der Staatsanwaltschaft abgetrennt worden war, verurteilte ihn das Landgericht Saarbrücken im Oktober 2003 nach zwei Verhandlungstagen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. In den Medien wurde dieser erste Prozess als Schnellverfahren kritisiert, bei dem der Angeklagte nur von einem Arbeitsrechtler verteidigt wurde.[5]

Der Prozess gegen weitere dreizehn Angeklagte – vier Frauen und neun Männer – begann am 20. September 2004. Zu Beginn wurde noch mit einem Urteil bis Jahresende gerechnet.[6] Die Anklage stützte sich hauptsächlich auf die Zeugenaussage von Andrea M., die sie vor Gericht zunächst auch wiederholte, später allerdings widerrief[7]. Auch weitere Angeklagte belasteten sich gegenseitig, widerriefen ihre Aussagen jedoch hinterher. Sonstige Beweise gab es nicht: Weder wurde Pascals Leiche noch das Fahrrad, mit dem er am Tag seines Verschwindens unterwegs war, gefunden. Auch konnten an der Matratze in der Tosa-Klause, auf der der Junge vergewaltigt worden sein soll, keine Haare, Blut- oder Spermaspuren entdeckt werden.[8]

Im Verlaufe des Prozesses geriet die Verhandlung immer weiter ins Stocken. Auch kam Kritik gegen die Ermittlungsbehörden auf: Man hätte die Beschuldigten, die zum Teil als geistig minderbegabt und alkoholkrank beschrieben werden[9], bei ihren Aussagen psychisch und auch körperlich unter Druck gesetzt. Weiterhin erweckte ein psychologisches Gutachten Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Kevins Aussagen.

Bis Juni 2006 entließ das Gericht sämtliche Angeklagten wieder aus der Untersuchungshaft, da es keinen dringenden Tatverdacht, sondern nur noch einen hinreichenden Tatverdacht gegen sie sah. Das Verfahren gegen einen weiteren Angeklagten wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Am 23. August 2007 forderte der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer für elf der Angeklagten Freiheitsstrafen, davon in fünf Fällen eine lebenslange Freiheitsstrafe; einer der Angeklagten sei freizusprechen.[10][11] Die Verteidiger forderten Freisprüche. Die Angeklagten hatten am 31. August das letzte Wort und beteuerten erneut ihre Unschuld. Nach 147 Verhandlungstagen und 294 Zeugenvernehmungen wurden alle zwölf Angeklagten am 7. September freigesprochen. Nicht ausgeräumte Zweifel an der Schuld der Angeklagten machten nach Aussage des Vorsitzenden Richters Ulrich Chudoba diese Entscheidung unabwendbar.[12] Lediglich die Wirtin der Tosa-Klause wurde wegen eines Drogendelikts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

In der Öffentlichkeit stieß das Urteil auf breite Kritik. Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Heiko Maas nannte die Entscheidung „zum Kotzen“. Die Deutsche Kinderhilfe sprach von einem „schwarzen Tag für kindliche Opfer in deutschen Strafverfahren“.[13]

Die Spiegel-Reporterin Gisela Friedrichsen verglich abschließend den Fall aufgrund massiver Vorverurteilung durch die Medien, offensichtlicher Aussagesuggestion und -nötigung durch die Polizei, widerstreitender und sich gegenseitig beschuldigender Zeugenaussagen und wiederholter Aussagewiderrufe sowie deutlicher, auf das Aussageergebnis Missbrauch hinzielender Befragungssuggestion mit dem Montessori-Prozess (1992-1995) und den Wormser Prozessen (1994-1997).[14] Es finden sich auch deutliche Parallelen zum McMartin preschool trial (1984-1990) in den USA, der ebenfalls auf massive Suggestivbefragungen und zahlreiche Aussagen geistig zurückgebliebener Erwachsener zurückging, die sich im Prozessverlauf selbst und gegenseitig der Teilnahme oder Kenntnis eines weitreichenden Kinderschänderrings bezichtigten.

Revision

Gegen die Freisprüche von vier Angeklagten, unter anderem auch gegen den Teilfreispruch der Wirtin der Tosa-Klause, legte die Staatsanwaltschaft Saarbrücken Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) ein. Mit Urteil vom 13. Januar 2009 bestätigte der BGH jedoch das Urteil des Saarbrücker Landgerichts. Die Freisprüche seien nach Ansicht des BGH nicht zu beanstanden. Fehler bei der Beweiswürdigung wären nicht festzustellen. Das Urteil sei sorgfältig und eingehend begründet. Insbesondere habe das Landgericht keine überspannten Anforderungen an die zu einer Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt. Es habe vielmehr stets im Blick gehabt, dass fünf der in ihrer Persönlichkeitsstruktur auffälligen Angeklagten zeitweise bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren, Explorationen durch Sachverständige und teilweise auch noch in der Hauptverhandlung – jedenfalls zum Teil – geständige, später aber widerrufene Angaben gemacht haben.[15]

Ereignisse nach Abschluss des Prozesses

Einer der freigesprochenen Angeklagten erstach am 29. Mai 2009 einen Nachbarn mit einem Küchenmesser. Da er zur Tatzeit stark alkoholisiert war, wurde ihm eine verminderte Schuldfähigkeit zugestanden und er erhielt lediglich eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren wegen Totschlags.[16]

Die Auslieferung des im September 2008 von Friedrichsen veröffentlichten Buchs wurde durch eine einstweilige Verfügung des LG Hamburg vom 13. Januar 2009 gestoppt. Der Verlag Random House legte Widerspruch ein. Am 9. Oktober 2009 wurde die einstweilige Verfügung aufgehoben (Urteil 324 O 943/09 Landgericht Hamburg).[17]

Im Mai 2011 wurde bekannt, dass ein Hinweis, wonach Pascal zwar zunächst in der lothringischen Kiesgrube verscharrt, dann aber wieder ausgegraben und an einem anderen Ort in Luxemburg vergraben wurde, seitens der Justiz nicht weiter verfolgt wurde. Dieser Hinweis mit der Nummer 677 basiert auf einem Geständnis, welches die Mitangeklagte Andrea M. während ihrer Haftzeit gegenüber einer Mitgefangenen gemacht haben soll.[18]

Literatur

Einzelnachweise

  1. SR-Online: Kleine Chronik des Pascal-Prozesses
  2. Michael Mielke: Trümmer einer Anklage, Spiegel Online, 23. Februar 2005
  3. 42. Prozesstag: Was geschah am Kirmessonntag?, SR-Online, 30. Mai 2005
  4. Welt online: Der kleine Pascal und die Hölle in der Tosa-Klause. 29. September 2011
  5. Spiegel Online: Ein notleidender Prozess, 21. Juli 2006
  6. Ab Montag: Pascal-Prozess. In: Saarbrücker Zeitung vom 18. September 2004
  7. faz.net: Hauptbelastungszeugin widerruft alle Aussagen, 31. August 2006
  8. tagesspiegel.de: In Zweifelhaft, 8. September 2007
  9. faz.net: Am Ende im Nebel des Zweifels, 6. September 2007
  10. Spiegel Online: Anklage fordert fünf Mal lebenslänglich, 23. August 2007
  11. welt.de: Staatsanwalt fordert lebenslange Haftstrafen, 6. September 2007
  12. SR-Online: Freisprüche im Fall Pascal, 7. September 2007
  13. Welt Online: Urteil im Pascal-Prozess stößt auf Kritik, 7. September 2007
  14. Gisela Friedrichsen: Kann sein, kann nicht sein. In: Der Spiegel. Nr. 37, 2007 (10. September 2007, online).
  15. BGH, Pressemitteilung Nr. 6/09 vom 13. Januar 2009
  16. sol.de: Pascal-Angeklagter wegen Totschlags verurteilt. Mein Saarland Online vom 16. Dezember 2009
  17. 324 O 943/08 - 9. Oktober 2009 - Rechtsanwalt Nesselhauf konnte das Buch nicht verbieten auf buskeismus-lexikon.de
  18. Fall Pascal: Spur 677 von Gericht nicht genug verfolgt. Mein Saarland Online vom 16. Mai 2011

Weblinks


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